Donnerstag, 25. Mai 2017

Wechselbad der Gefühle

Ohhhkejj Leute,

also jetzt gibt es wirklich mal Neuigkeiten. Ich wollte eigentlich schon viel länger mal wieder schreiben, ich weiß gar nicht mehr von was. Vermutlich davon, wie schnell die Zeit vergeht, dass die Hundert-Tage-Marke geknackt wurde und dass bald schon Ferien sind.

Das alles tritt jetzt aber in den Hintergrund. Denn seit Montag steht alles mehr oder weniger Kopf.

Ich komme so kurz vor 18 Uhr von meinem typischen, mega langem und anstrengenden Montag nach Hause. Tasche abgestellt, Handy rausgenommen "mit Wlan Netzwerk TP-LINK verbunden" leuchtet auf und wie gewöhnlich trudeln eine handvoll Nachrichten und notifications ein. Auch zwei neue Emails, aber die ignorier ich erstmal. "Ist doch eh nur wieder Werbung oder Spam", denk ich mir dabei.

Irgendwann später guck ich dann aber trotzdem mal in meine Mails und da ist dort plötzlich eine Mail von DFSR. Draufgeklickt und "Liebe Emilia, wir freuen uns dir mitteilen zu dürfen"... weiter les ich gar nicht, sondern mein Blick fällt auf den Anhang. Dann renn ich aber doch erstmal zu Maria hoch und erzähl ihr euphorisch von der freudigen Botschaft.

Zusammen schauen wir uns dann die Sache erstmal genauer an und schon die erste Überraschung.
Hier von einer Gastfamilie zu reden fühlt sich irgendwie komisch an, denn tatsächlich steht in dem Formular nur eine einzelne Frau, die Felder "parent 2" und "other family members" sind leer.

Als nächstes fällt mein Blick auf meinen zukünftigen Wohnort: Södertälje.
Obwohl ich glaubte nach Jahren der Recherchen so ziemlich jeden Ort in Schweden zu kennen, hatte ich Södertälje wirklich noch nie gehört.

Bis dahin fühlte ich noch gar nichts, außer vielleicht Aufregung. All die neuen Infos hatte ich nur zur Kenntnis genommen. Aber jetzt ging natürlich das große Googlen los.

Stadt, Schule, Gastmutter. In dieser Reihenfolge versuchte ich mir ein Bild von meinem neuen Leben, das in weniger als drei Monaten starten wird, zu machen. Wie nun meine Emotionen in den darauffolgenden Stunden wechselten ist wohl kaum zu verstehen. Deshalb werde ich das jetzt auch nicht versuchen zu erklären, sondern einfach alles aus meiner jetzigen Perspektive beschreiben.

Meine Gastmutter heißt Edith, ist im gleichen Alter wie meine Mama und lebt seit sie 20 ist in Schweden. Geboren und aufgewachsen ist sie in Chile und kann dementsprechen fließend Spanisch. Außerdem natürlich Schwedisch und auch ein bisschen Italienisch, Deutsch und Englisch. Das ist für mich mit meiner Leidenschaft für Sprachen natürlich der Jackpot. Zusammen mit ihren vier Katzen lebt sie in Tveta, einem Randbezirk von Södertälje.

Södertälje ist eine Industriestadt mit ca. 90.000 Einwohnern und liegt 30 km westlich von Stockholm.


Das waren soweit erstmal die Fakten, aber jetzt möchte ich euch und mein späteres Ich doch noch ein bisschen an meinen Gedanken teilhaben lassen.

Über den "Gastfamilien-Schock" war ich dann doch relativ schnell hinweg. Ich habe Edith nämlich noch am selben Abend eine Mail geschrieben. Zuerst hat sie mir auf Englisch geantwortet und meinte direkt, dass ihr Englisch nicht sonderlich gut ist. Das sah man auch, aber man sah auch wie viel Mühe sie sich gegeben hatte und verstanden habe ich trotzdem alles. Nichtsdestotrotz meinte ich, sie solle beim nächsten Mal einfach auf Schwedisch antworten. Das tat sie dann auch schon direkt eine Stunde später und es war SO viel besser, da sie nun alles schreiben konnte, was sie wollte. Am Montagabend lag ich bis weit nach Mitternacht wach, einfach nur, weil ich so glücklich war. 

Am nächsten Tag habe ich mich dann mal ausführlicher über Södertälje informiert, vielleicht war das ein Fehler. Zum einen ist Södertälje eine Industriestadt und für meine Begriffe nicht gerade hübsch. 

Zum anderen sind 40% Einwanderer in der gesamten Stadt bzw. 70-90% Einwanderer in meinem Stadtteil schon ein Schock für mich sächsisches Landei. Zum Vergleich, in Berlin liegt der Ausländeranteil bei 14%, in Sachsen bei lächerlichen 3%. Die Zahlen lassen sich vielleicht nicht ganz vergleichen, denn ich glaube die Statistiken zählen Erste- und Zweite-Generation-Einwanderer anders, aber man kann auf alle Fälle sagen, dass es anders, sehr anders wird. Nicht die typische Schweden-Idylle.

Den größten Anteil, der Einwanderer machen Assyrer (christliche Volkgruppe, die heute in Syrien, dem Iran und Irak leben und dort verfolgt werden) aus. Danach folgen Armenier und die überall gegenwärtigen Finnland-Schweden.

Als ich das alles las, wurde mir schon etwas mulmig. Dann tat ich das dümmste, was man machen kann und begab mich in irgendein Internet-Forum, wo vor zwei Jahren Leute über Södertälje diskutiert hatten. Dort standen dann so Sachen, wie "An sich ist die Stadt ganz in Ordnung, aber Ronna und Hovsjö sind schon gruselig", oder "Also ich war da noch nie und würde da auch nicht hinfahren, geschweige denn dorte wohnen", oder "In Tveta leben eigentlich nur noch Ausländer, alle anderen haben aufgegeben". Jaja, ich weiß, dem Internet ist nicht zu vertrauen, aber ich war trotzdem schockiert. Dass ich dann noch eine Liste der Schwedischen Polizei gefunden habe, die Ronna, Geneta und Lina (andere Stadtteile), auf einer Liste der gefährlichsten Orte in Schweden auf Platz 4 listet, hat es nicht wirklich besser gemacht. Immerhin ist Hovsjö nur auf Platz 30. (Hovsjö und Tveta sind direkt nebeneinander, ich bin mir nicht sicher, in welchen Stadtteil der Häuserblock gehört, in dem ich wohnen werde)

Auch die Schwedendemokraten (wobei der Name hier missleitend ist, denn das sind rechte Nationalisten) haben sich Södertälje als Negativ-Beispiel rausgesucht und schreiben in einem Artikel "Södertälje ist Schweden, aber nicht schwedisch". 

"Ja, da gehe ich nach Schweden und komme in die womöglich unschwedischste Stadt Schwedens. Wahrscheinlich können die meisten hier nicht mal schwedisch. Kann ich da im dunklen überhaupt alleine raus?", denke ich und hasse mich im nächsten Moment selbst dafür. Denn so bin ich nicht. Ich bin weltoffen.

Nach all dem war ich die nächsten Stunden erstmal etwas durch den Wind und habe meine ATS-Whatsapp Gruppe terrorisiert. Sorry dafür nochmal ; D

Inwischen hat sich alles wieder relativiert. Mehrere Schweden haben mir bestätigt, dass Södertälje nicht gefährlich ist, zumindest nicht gefährlicher als Stockholm oder viele andere Städte. Außerdem findet man keine Berichte von irgendwelchen Zwischenfällen. 

Was mich jedoch am meisten beruhigt ist, dass Edith uns gestern geschrieben hat, dass ich schon ihr drittes Austauschkind bin. Sie hatte bereits ein Mädchen aus Japan und eines aus Deutschland bei sich. Und da muss ja auch alles gut gewesen sein, denn wenn es irgendwelche Probleme gegeben hätte, dann würde sie es ja jetzt nicht nochmal machen.

Ja, dieses Wechselbad der Gefühle, dass ich in diesen Zeilen nur annähernd festhalten konnte, wird wohl immer weiter gehen und so schnell nicht mehr aufhören. Aber momentan sind die Zweifel nach weg, da, weg, da, weg, da mal wieder weg.

Ich freue mich jetzt einfach, dass ich so eine unglaublich nette Gastmama haben werde und endlich aus dieser Ungewissheit raus bin. Dass ich nicht nur die schwedische, sondern auch noch so viele andere Kulturen kennenlernen werde. Dass ich vier Katzen zum Knuddeln haben werde. Dass ich sicherlich mein Spanisch verbessern können werde. Dass es in der Kommune Södertälje 86 Seen, 707 Inseln und 24 Naturreservate gibt. Dass das schöne Stockholm nur 30 Minuten entfernt liegt. 

Und, dass die kleine Miele endlich mal Großstadtluft schnuppern wird.


Ähnliches Foto
Das schönste Bild, dass ich von Södertälje finden konnte